EMRK auf dem Prüfstand: Sind Menschenrechte verhandelbar?
Das Asylrecht ist wieder mal in aller Munde. August Wöginger, Klubobmann des Parlamentsklubs der ÖVP, hat in einem Interview mit dem Standard auf die Frage, ob das europäische Asylrecht überarbeitet gehört, Folgendes geantwortet:
„Ja, das würde ich meinen. Auch die Menschenrechtskonvention gehört überarbeitet. Wir haben mittlerweile eine andere Situation, als es vor ein paar Jahrzehnten der Fall war, als diese Gesetze geschrieben wurden.“
Mit "Menschenrechtskonvention" hat er offenbar die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) gemeint. Diese Aussage wurde von Vertreterinnen anderer Parteien, Bundespräsident Alexander van der Bellen und sogar von Vertreterinnen der ÖVP heftig kritisiert.
Es ist nicht das erste Mal, dass eine österreichische Politikerin mit solchen Aussagen von sich reden macht. Auch der heutige FPÖ-Bundesparteiobmann Herbert Kickl hat die EMRK 2019 zwar nicht direkt, aber indirekt in Frage gestellt, unter anderem mit dem bekannten Satz „dass das Recht der Politik zu folgen hat, und nicht die Politik dem Recht“.
Doch warum soll gerade die EMRK überarbeitet werden? Und wie würde das gehen?
Warum "überarbeiten"?
Die EMRK ist ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen den Mitgliedsstaaten des Europarats. Das sind 46 Staaten (unter anderem alle EU-Mitgliedsstaaten). In der EMRK sind viele wichtige Menschenrechte geregelt, wie zum Beispiel
das Recht auf Leben;
das Recht auf Freiheit und Sicherheit;
das Recht auf ein faires Verfahren;
das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens; oder auch
die Freiheit der Meinungsäußerung.
Über die Einhaltung der EMRK wacht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Die Urteile des EGMR sind für alle Staaten verbindlich.
Die EMRK ist der wichtigste österreichische Grundrechtskatalog. Es gibt zwar auch andere Grundrechtskataloge, wie etwa das Staatsgrundgesetz. Diese sehen allerdings in vielen Bereichen keinen so weiten Grundrechtsschutz wie die EMRK vor. Daher ist die EMRK für den Schutz der Rechte jeder Person in Österreich von immenser Bedeutung - das gilt natürlich auch für österreichische Staatsbürgerinnen und Unionsbürgerinnen.
Gegenstand der Diskussionen der letzten Jahre war vor allem Artikel 3 EMRK, das Folterverbot, der wie folgt lautet:
„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“
Bei Artikel 3 EMRK handelt es sich um ein absolut geschütztes Grundrecht, es darf also nicht eingeschränkt werden - das gilt ohne Ausnahmen. Und warum wird darüber diskutiert? Weil der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aus Artikel 3 EMRK den Grundsatz der Nichtzurückweisung ableitet:
Grundsatz der Nichtzurückweisung (auch Non-refoulement-Gebot genannt)
Nach dem Grundsatz der Nichtzurückweisung darf eine Person nicht abgeschoben werden, wenn sie im Herkunftsstaat oder im Staat, in den sie zurückgewiesen wird, einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, gefoltert oder unmenschlich behandelt, bestraft oder getötet zu werden.
Außerdem wird der Grundsatz der Nichtzurückweisung auch als Hindernis für sogenannte "pushbacks" angesehen. So nennt man die Zurückschiebung an der Grenze ohne Möglichkeit einen Asylantrag zu stellen bzw. ohne dass dieser überprüft wird (zum Beispiel das Abfangen und Zurückweisen von "Flüchtlingsbooten" durch griechische Behörden).
Artikel 3 EMRK ist absolut geschützt. Es gibt daher keine Ausnahmen von dem Grundsatz der Nichtzurückweisung. Deswegen dürfen auch Personen, die schwere Verbrechen begangen haben oder eine große Gefahr für die Gesellschaft darstellen, nicht abgeschoben oder zurückgewiesen werden, wenn sie als Folge der Abschiebung einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt wären, gefoltert oder unmenschlich behandelt, bestraft oder getötet zu werden.
Wie kann die EMRK abgeändert werden?
Doch wie kann die EMRK „überarbeitet“ werden? Falls Österreich die EMRK nun tatsächlich abändern wollte, müsste dies auf zwei Ebenen geschehen: einer österreichischen und einer internationalen. Und zwar deswegen, weil die EMRK nicht nur ein völkerrechtlicher Vertrag ist, sondern in Österreich auch mit Gesetz, also auf nationaler Ebene, eingeführt wurde. Daher ist die EMRK für Österreich sozusagen zweifach bindend und müsste auch zweimal abgeändert werden.
National
In Österreich hat die EMRK im Gegensatz zu anderen Staaten eine besondere Bedeutung. Sie gilt nicht nur aufgrund eines Gesetzes, sondern ist sogar Teil der österreichischen Verfassung.
Da die EMRK in Österreich im Verfassungsrang steht, benötigt eine Abänderung oder gar Abschaffung der EMRK aus dem nationalen Verfassungsrang eine 2/3 Mehrheit der abgegebenen Stimmen im Nationalrat bei Anwesenheit mindestens der Hälfte der Abgeordneten. Eine Abänderung hin zu viel weniger Schutz oder gar Abschaffung der Geltung der EMRK würde den Grundrechtsschutz in Österreich wesentlich einschränken – daher wäre dafür möglicherweise sogar eine Volksabstimmung nötig.
International
Die EMRK ist jedoch nicht „nur“ Teil der österreichischen Verfassung, sondern auch ein völkerrechtlicher Vertrag mit 46 Vertragsstaaten. Die EMRK wurde noch nie abgeschwächt – im Gegenteil - durch Zusatzprotokolle wurden die Grundrechte gestärkt bzw. weitere Grundrechte aufgenommen. Das ist vor dem Hintergrund der Geschichte der EMRK auch völlig verständlich - ist sie doch Garantie der Menschenwürde und eine Antwort auf die Gräuel des Nationalsozialismus.
Es ist wohl unrealistisch, dass alle 46 Staaten eine Einigung finden würden, die wichtige Teile der EMRK abändert bzw. sogar abschwächt.
Als letzte Möglichkeit kommen auch Kündigung der EMRK oder Ausschluss aus dem Europarat in Betracht: Russland war bis vor Kurzem ebenfalls Mitglied des Europarates und Vertragsstaat der EMRK, wurde aber wegen des Angriffs auf die Ukraine im März 2022 aus dem Europarat ausgeschlossen und ist damit seit 16. September 2022 nicht mehr Vertragsstaat der EMRK.
Vor diesem Hintergrund ist eine Abänderung bzw. Abschwächung der EMRK nur unter hohen Hürden möglich. Ob die mögliche Abschwächung unserer Menschenrechte wirklich ein erstrebenswertes Ziel ist, ist natürlich eine andere Frage.
Kurz gesagt:
Die EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention) ist der wichtigste Grundrechtskatalog in Österreich. Er schützt die Menschenrechte aller, auch österreichischer Staatsbürger und Unionsbürger.
Die EMRK gilt in Österreich zweifach. Sie steht national im Verfassungsrang. International gilt sie für Österreich als völkerrechtlicher Vertrag.
National kann die EMRK nur durch die Zustimmung einer 2/3 Mehrheit der abgegebenen Stimmen des Nationalrats abgeändert werden. International müssen alle Vertragsstaaten zustimmen. Sonst ist auch eine Kündigung oder ein Ausschluss möglich.
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