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  • AutorenbildAntonia Tieber

Wenn David Goliath klagt: Die Republik Österreich als Beklagte im Fall Ischgl

Vergangenen Freitag, den 17. 9. 2021, war der erste Verhandlungstag in der Causa-Ischgl. Die Familie eines Corona-Todesopfers klagt die Republik Österreich auf Entschädigung. Das Ziel der Klägerinnen ist es, den Staat Österreich für dessen Umgang mit dem Ausbruch des Corona-Virus in Tirol zur Verantwortung zu ziehen. Wie das genau funktioniert? Hier eine kurze Schilderung der juristischen Hintergründe:


Causa Ischgl: too little, too late?


Unter dem Schlagwort „Causa Ischgl“ wird jenes Geschehen zusammengefasst, das sich im März 2020, zu Beginn der Covid-19-Pandemie, in Tirol ereignet hat. Im beliebten Wintersportort Ischgl infizierten sich nicht nur Einheimische, sondern auch zahlreiche Touristinnen aus aller Welt. Die Behörden verkannten das Ansteckungsrisiko. Gastronomie, Schilifte und Hotellerie wurden zu spät geschlossen. Darüber hinaus sorgte Bundeskanzler Sebastian Kurz mit seiner überraschenden Ankündigung, Teile Tirols mit Quarantäneregelungen zu belegen, für Verunsicherung und ein regelrechtes Abreisechaos. Ischgl wurde international als Corona-Hotspot bekannt.


Auch ein Angehöriger der Klägerinnen war zu diesem Zeitpunkt als Urlauber in Ischgl zu Gast gewesen. Seine Familie wirft der Republik Österreich vor, für den Tod des Mannes verantwortlich zu sein. Dieser habe sich nämlich vor oder während seiner Heimreise wegen des staatlichen Missmanagements mit Corona infiziert. Die Hinterbliebenen des Verstorbenen fordern daher Entschädigung von der Republik Österreich.


Rechtlich beleuchtet


Um zu verstehen, was damit gemeint ist, dass die Familie des Verstorbenen Entschädigung von der Republik Österreich verlangt und auf welche Weise sie diese geltend macht, sehen wir uns nun folgend im Detail an, was unter einem Zivilprozess zu verstehen ist, wer die Parteien im konkreten Verfahren sind – wer also vor Gericht auftritt – und was bei der Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen zu beachten ist.

Der Zivilprozess


Der Zivilprozess ist ein Verfahren vor einem unabhängigen, staatlichen Gericht, das der Feststellung von bürgerlich-rechtlichen Ansprüchen dient. Rechtsgrundlage ist die Zivilprozessordnung (ZPO). Schadenersatzansprüche fallen in die Kategorie „Bürgerliches Recht“. Möchte man also Ersatz für einen Schaden erlangen, kann man die, die den Schaden verursacht hat, vor einem Zivilgericht klagen. Oder umgekehrt: Schädigerinnen haben unter gewissen Voraussetzungen für durch sie verursachte Schäden aufzukommen. Selbst die Republik Österreich wird für solche Schäden, die durch das Verhalten ihrer Bediensteten verursacht werden, schadenersatzpflichtig – das ergibt sich aus dem sogenannten Amtshaftungsgesetz (AHG).


Klägerinnen sind im ersten Ischgl Fall die Familie des an Covid-19 Verstorbenen. Der Verstorbene selbst kann seine Ansprüche klarerweise nicht mehr geltend machen. Der Anspruch auf Schmerzengeld ist allerdings vererblich. Deshalb sind die Witwe und der Sohn als Erben berechtigt, den Anspruch geltend zu machen. In der medialen Berichterstattung ist oft auch vom Verbraucherschutzverein (VSV) zu lesen. Dieser unterstützt die Klagseite und hat den verhandelnden Anwalt beauftragt. Der VSV ist selbst aber nicht Kläger.


Beklagte ist die Republik Österreich. Als Verfahrenspartei steht sie den Klägerinnen gleichrangig gegenüber. Auch für den Staat gelten im Zivilprozess die gleichen Spielregeln. Daher profitiert weder Goliath von seiner körperlichen Überlegenheit noch David von seiner Steinschleuder. Doch wer hat stellvertretend für die Republik im Gerichtssaal zu erscheinen? Der Bundespräsident, der Bundeskanzler, die Vorsitzenden der verantwortlichen Behörde? Nein. Die Antwort ist:


Die Finanzprokuratur


Die Finanzprokuratur ist Anwältin und Beraterin der Republik Österreich. Für sie sind 46 Anwältinnen tätig. Diese mussten nicht nur die Rechtsanwaltsprüfung, sondern darüber hinaus eine umfangreiche Dienstprüfung (Prokuraturprüfung) ablegen. Spricht man davon, dass die Republik Österreich Klägerin oder – wie im konkreten Fall – Beklagte in einem Zivilprozess ist, dann vertritt im Gerichtssaal eben eine jener Anwältinnen die Interessen der Republik. So waren es weder Van der Bellen als Bundespräsident noch eine andere Politikerin, die am vergangen Freitag an der Verhandlung teilgenommen haben, sondern zwei Juristen der Finanzprokuratur, die dem Rechtsanwalt der Klagseite gegenübersaßen.


It wasn’t me: Schadenersatz und wer was beweisen muss


Personen, die auf Schadenersatz klagen, wollen einen Ausgleich für ihren erlittenen Schaden. Voraussetzungen für einen Schadenersatzanspruch sind grundsätzlich: Schaden, Kausalität, Rechtswidrigkeit und Verschulden. Der Schaden muss durch das Verhalten der Schädigerin verursacht worden sein. Das Verhalten der Schädigerin ist rechtswidrig, wenn sie gegen das Gesetz verstößt oder einen Vertrag verletzt. Verschulden liegt vor, wenn bei pflichtgemäßen Verhalten, der Schaden nicht entstanden wäre.


In Zusammenhang mit der Causa-Ischgl bedeutet das Folgendes: Der Verstorbene litt vor seinem Tod an Schmerzen (Schaden). Die Klagseite behauptet, dass sich der Verstorbene mit Covid-19 infiziert habe, weil die verantwortlichen Behörden die Wintersaison zu spät beendet hätten und die Ankündigung einer Quarantänepflicht durch Sebastian Kurz ein Abreisechaos zur Folge gehabt hätte (Kausalität). Die Behörden hätten gegen das Epidemiegesetz verstoßen (Rechtswidrigkeit). Es sei ihnen nämlich bereits bekannt gewesen, dass der Corona-Virus in Ischgl grassierte. Dennoch seien weder Gastronomie noch Schilifte geschlossen und die Ankündigung des Bundeskanzlers überstürzt und ohne Vorbereitungszeit für Tiroler Behörden getroffen worden (Verschulden).


Die Finanzprokuratur sieht das naturgemäß anders und weist jegliche Verantwortung der Republik Österreich zurück. Es liegt an der Richterin, den Fall zu entscheiden.


Spannend ist daher die Frage, wer was vor Gericht beweisen muss. Grundsätzlich hat die geschädigte Klägerin Schaden, Kausalität, Rechtswidrigkeit und Verschulden zu beweisen. Im Fall Ischgl haben also die Hinterbliebenen zu beweisen, dass sich der Verstorbene bei pflichtgemäßem Handeln der Republik Österreich nicht infiziert und daher auch keine Schmerzen gehabt hätte. Hätte, hätte, Fahrradkette: Die vielen Konjunktive lassen richtig vermuten. Der Beweis, dass sich der Verstorbene eben gerade in Ischgl und genau deshalb – und nicht woanders oder aus anderen Gründen – angesteckt hat, ist sehr schwierig zu erbringen. Mittels einer juristischen Spitzfindigkeit versucht der Rechtsanwalt der Familie daher, die sogenannte Beweislast umzukehren. In dem Fall müsste dann die Finanzprokuratur beweisen, dass sich der Verstorbene anderswo infiziert und die Republik Österreich richtig gehandelt hat. Auch die Frage der Beweislast hat die Richterin zu beurteilen.


Es bleibt abzuwarten, wie die Richterin entscheiden wird. Das Verfahren ist deshalb besonders brisant, weil viele ähnliche Klagen gegen die Republik zu erwarten sind. Die Entwicklungen im dargestellten Fall werden dafür richtungsweisend sein.


Kurz gesagt:


  • Im Fall Ischgl wird die Republik Österreich wegen der Entscheidungen der Tiroler Behörden und der überraschenden Ankündigungen von Bundeskanzler Kurz zu Beginn der Corona-Pandemie geklagt.

  • Die Republik Österreich kann Partei in einem Zivilprozess sein. Sie wird vertreten durch die Finanzprokuratur.

  • Voraussetzungen für einen Schadenersatzanspruch sind: Schaden, Kausalität, Rechtswidrigkeit und Verschulden.

  • Entscheidend für den Ausgang eines Verfahrens ist die Frage, wer die entscheidungserheblichen Tatsachen zu beweisen hat.



____________________________________________________________________ Wie ihr überzuckert-Gastbeitrag schon vermuten lässt, ist Antonia Tieber eine wahre Expertin für Zivilprozesse. Denn schon während ihres Studiums eignete sich Antonia als Mitarbeiterin am Institut für Zivilverfahren jenes Fachwissen an, das nun in diesen Text eingeflossen ist. Das bedeutet aber keineswegs, dass Antonia eindimensional unterwegs wäre: Ihre Leidenschaft gilt nämlich genauso auch dem österreichischen Verfassungsrecht sowie aktuellen politischen Entwicklungen. Dennoch ist die Wienerin dem Institut für Zivilverfahren bis heute erhalten geblieben, arbeitet sie dort doch aktuell an ihrer Doktorarbeit.

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