Ramon Spiegel
Verhältniswahl vs Mehrheitswahl: Was macht eine Wahl "fair"?
Am Montag sorgte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán und seine Regierungspartei Fidesz für Schlagzeilen: Die Fidesz gewinnt zum vierten Mal in Folge; Orban tritt damit seine insgesamt fünfte Amtszeit an. Wieder einmal konnte sich die Partei eine Zweidrittel-Mehrheit im Parlament sichern – und das, obwohl „nur“ 53 % der Stimmen auf sie entfielen. Möglich wird das nur durch das ungarische Wahlsystem, das sich wesentlich vom österreichischen Verhältniswahlrecht unterscheidet.
Die Verhältniswahl als „fairstes“ System?
In Österreich bestimmt Artikel 26 des Bundes-Verfassungsgesetzes, dass der Nationalrat „nach den Grundsätzen der Verhältniswahl“ gewählt wird. Gleiches gilt für die Landtage, Gemeinderäte, oder auch die österreichischen Mitglieder des Europäischen Parlaments. Was bedeutet das? Unter einer Verhältniswahl versteht man, dass die Verteilung der Sitze im Parlament umgerechnet den Wählerstimmen entspricht. Die politischen Interessen in einem Land sollen also nach ihrem Stimmenanteil repräsentiert werden. Aber macht das auch Sinn?
Pro: Der Wählerwille zählt.
Als Vorteil des Verhältniswahlrechts wird oft „Gerechtigkeit“ genannt, weil hierdurch (zumindest nach der Grundidee) möglichst alle Meinungen und Interessen im Land berücksichtigt werden können. Im Gegensatz zum Mehrheitswahlsystem haben daher auch kleinere Parteien die Möglichkeit, ins Parlament einzuziehen.
Contra: Zersplitterung der Parteienlandschaft.
Genau dieser letzte Punkt kann jedoch auch negative Seiten haben: Der Gefahr der „Parteienzersplitterung“ muss mit Prozenthürden begegnet werden. Damit etwa nicht auch extremistische Parteien oder solche, die nur ein einziges Thema verfolgen, ins Parlament kommen, muss eine Partei in Österreich zumindest 4 % der bundesweiten Stimmen erhalten, um ins Parlament zu ziehen. Zudem führen Verhältniswahlen meist zu keinen klaren Mehrheiten, wodurch Koalitionen (und möglicherweise langwierige Koalitionsverhandlungen) notwendig werden.
Da in Österreich die Anzahl der Nationalratsmandate exakt mit 183 bestimmt ist, kann die Umrechnung übrigens recht komplex werden: immerhin gibt es dafür über 200 mathematische Verfahren.
Die Mehrheitswahl – the winner takes it all
Bei der Mehrheitswahl wird das Wahlgebiet in so viele Wahlkreise eingeteilt, wie Mandate zu vergeben sind. Das Mandat erhält jene Kandidatin, die die meisten Stimmen (relativ oder absolut) in ihrem Wahlkreis erhält. Die Stimmen, die an die Wahlverliererin ergangen sind, verfallen, wodurch es zB sein kann, dass ein Kandidat die US-Präsidentschaftswahl mit 46 % aller Stimmen gewinnt.
Pro: Stabile Regierungen.
Befürworterinnen der Mehrheitswahl sehen den Vorteil dieses Wahlsystems in der Verhinderung der Parteienzersplitterung, da kleinere Parteien meist keine Chance haben, Mandate zu erringen. Dadurch sei eine einfache Regierungsbildung und eine stabile, entscheidungsfähige Regierung gewährleistet, die keine Kompromisse mit anderen Parteien eingehen muss.
Contra: Stimmen gehen verloren.
Das winner-takes-all-Prinzip sorgt dafür, dass im Parlament ein Missverhältnis zwischen den Stimmen und den Mandaten entstehen kann. Darüber hinaus können sich Ungerechtigkeiten dadurch ergeben, dass die Wahlkreisgrenzen so raffiniert gezogen werden, dass eine Partei (die regierende Partei) einen Vorteil daraus zieht („Gerrymandering“).
Seit 2011 herrscht in Ungarn ein neues Parlamentswahlrecht. Von 199 Abgeordneten werden 106 über „Einerwahlkreise“ gewählt. Das heißt: Gewählt ist die relativ stimmenstärkste Kandidatin im jeweiligen Wahlkreis; die übrigen Stimmen verfallen. Die restlichen Mandate werden nach dem Verhältniswahlrecht über Parteilisten gewählt. Kritikerinnen bemängeln an der Wahl der vergangenen Woche unter anderem, dass einerseits bereits zuvor die Wahlkreisgrenzen zugunsten der Fidesz gezogen wurden. Andererseits würden für ungarische Staatsbürgerinnen im Ausland ungleiche Bedingungen gelten: Während in Fidesz-nahen Nachbarländern eine Briefwahl möglich sei, müssten Ungarinnen im Westen des Landes (zB in Österreich und Deutschland) zur jeweiligen Botschaft fahren.
Was macht eine Wahl fair?
Das Verhältniswahlrecht ist ein Grundsatz des Wahlrechts in Österreich. Daneben gibt es natürlich noch weitere Prinzipien, die die Wahl „fair“ machen. Sie finden sich ebenfalls in Artikel 26 des Bundes-Verfassungsgesetzes: „Der Nationalrat wird vom Bundesvolk auf Grund des gleichen, unmittelbaren, persönlichen, freien und geheimen Wahlrechtes der Männer und Frauen, die am Wahltag das 16. Lebensjahr vollendet haben, nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt.“
Das allgemeine Wahlrecht.
Alle Staatsbürgerinnen, die das Mindestalter erreicht haben, dürfen ohne weitere spezifische Voraussetzungen wählen – unabhängig von Geschlecht, Aussehen, Bildung, Einkommen, Religion, etc. Einzige Ausnahme ist eine rechtskräftige gerichtliche Verurteilung wegen bestimmter Straftaten.
Das gleiche Wahlrecht.
Jede Stimme hat das gleiche Gewicht, also potenziell den gleichen Einfluss auf das Wahlresultat. Wenn man genau ist, stimmt das jedoch nicht ganz – denn die Nationalratsmandate werden auf die Wahlkreise nach der Bürgerzahl (und nicht nach der Zahl der Wahlberechtigten) verteilt. So kann es sein, dass eine Stimme verhältnismäßig um ein paar Kommastellen mehr Gewicht hat als eine Stimme in einem anderen Wahlkreis, wenn es im ersten Wahlkreis weniger Wahlberechtigte im Verhältnis zur Zahl der Mandate gibt als im zweiten Wahlkreis.
Das unmittelbare Wahlrecht.
Die Wählerinnen wählen die Abgeordneten zum Nationalrat direkt und ohne zwischengeschaltetes Gremium. Ein Wahlmännersystem wie in den USA ist somit verboten.
Das persönliche Wahlrecht.
Die Stimme wird grundsätzlich persönlich vor der Wahlbehörde und nicht etwa durch Stellvertreter abgegeben. Eine Briefwahl ist zwar zulässig, jedoch muss die Bürgerin eidesstattlich erklären, dass sie den Stimmzettel persönlich, unbeobachtet und unbeeinflusst ausgefüllt hat.
Das geheime Wahlrecht.
Hierdurch wird gesichert, dass Wählerinnen ihre Stimme unbeobachtet abgeben können – das Kreuz wird in abgeschirmten Wahlzellen gemacht und der Stimmzettel wird in einem Kuvert in die Wahlurne geworfen.
Das freie Wahlrecht.
Die Wählerinnen dürfen bei der Wahl nicht durch Zwang oder Druck beeinträchtigt werden. Im Strafgesetzbuch gibt es sogar einen eigenen Abschnitt über „Strafbare Handlungen bei Wahlen und Volksabstimmungen“. Zum Beispiel begeht eine „Wahlbehinderung“ nach § 262 des Strafgesetzbuches, wer einen anderen beim Wählen nötigt oder hindert.
Kurz gesagt:
Unter einer Verhältniswahl versteht man, dass die Verteilung der Sitze im Parlament umgerechnet den Wählerstimmen entspricht. Die politischen Interessen in einem Land sollen also nach ihrem Stimmenanteil repräsentiert werden.
Bei der Mehrheitswahl wird das Wahlgebiet in so viele Wahlkreise eingeteilt, wie Mandate zu vergeben sind. Das Mandat erhält jene Kandidatin, die die meisten Stimmen (relativ oder absolut) in ihrem Wahlkreis erhält. Die Stimmen, die an die Wahlverliererin ergangen sind, verfallen.
Weitere Grundsätze der Wahlen sind das allgemeine, gleiche, unmittelbare, persönliche, freie und geheime Wahlrecht.