top of page
AutorenbildBenjamin Weber

Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant

Am 21. November 2024 erließ der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehle gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und gegen Israels ehemaligen Verteidigungsminister Joaw Gallant (sowie gegen den vermutlich bereits getöteten Hamas-Führer Mohammed Diab Ibrahim Al-Masri). Die Erlassung von Haftbefehlen gegen israelische Politiker löste viele Reaktionen aus. Der österreichische Außenminister Alexander Schallenberg nannte sie „unverständlich und nicht nachvollziehbar". Auf welcher Grundlage wurden die vieldiskutierten Haftbefehle überhaupt erlassen?


Der Internationale Strafgerichtshof


Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH oder – aufgrund der englischen Bezeichnung als International Criminal Court – ICC) mit Sitz in der niederländischen Stadt Den Haag ist zuständig für die Verurteilung von Personen wegen folgender Verbrechen:


  • Völkermord,


  • Verbrechen gegen die Menschlichkeit,


  • Kriegsverbrechen; oder


  • dem Verbrechen der Aggression.


Es werden daher nicht Staaten, sondern Einzelpersonen verurteilt. Bisher wurde zum Beispiel der kongolesische Offizier Germain Katanga zu 12 Jahren Haft verurteilt, unter anderem, weil er Kindersoldaten rekrutierte. Auch gegen Vladimir Putin wurde im März 2023 ein Haftbefehl erlassen.


Darf der IStGH entscheiden?


Israel ist im Gegensatz zu 124 anderen Staaten, darunter Österreich, nicht Vertragsstaat des Römischen Statuts, also der vertraglichen Grundlage des IStGH. Auch weltpolitisch wichtige Staaten wie die USA und China sind nicht Partei. Daher hat der IStGH keine Jurisdiktion über Handlungen, die in Israel begangen werden.


Allerdings hat die Regierung von Palästina (das Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen hat) bereits Anfang 2015 erklärt, dass der IStGH für Verbrechen zuständig sein soll, die seit 2014 „in den besetzten palästinensischen Gebieten, einschließlich Ostjerusalem“ begangen wurden.


Es ist umstritten, ob Palästina ein Staat ist und ob solche Erklärungen daher Wirkung haben. Israel wendete im gegenständlichen Verfahren ein, dass dem IStGH keine Jurisdiktion zukomme. Diese Einrede wurde vom IStGH abgewiesen. Das Gericht verwies auf eine Entscheidung des IStGH aus dem Jahr 2021, in der bestätigt wurde, dass es seine Gerichtsbarkeit im Gazastreifen, dem Westjordanland und Ostjerusalem ausüben könne.


Ermittlungen des IStGH


Am 3. März 2021 leitete die damalige Chefanklägerin des IStGH, Fatou Bensouda, Ermittlungen im Zusammenhang mit der „Lage im Staat Palästina“ ein.


Am 20. Mai 2024 beantragte der derzeitige Chefankläger, Karim A.A. Khan, dann beim IStGH die Erlassung von Haftbefehlen gegen Netanjahu und Gallant. Über diesen Antrag hatte die Vorverfahrenskammer I zu entscheiden. Voraussetzung für die Erlassung des Haftbefehls ist laut Artikel 58 des Römischen Statuts:


 „a) dass begründeter Verdacht besteht, dass die Person ein der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegendes Verbrechen begangen hat, und


b) dass die Festnahme der Person notwendig erscheint,


i) um sicherzustellen, dass sie zur Verhandlung erscheint,

ii) um sicherzustellen, dass sie die Ermittlungen oder das Gerichtsverfahren nicht behindert oder gefährdet, oder

iii) um sie gegebenenfalls an der weiteren Begehung dieses Verbrechens


oder eines damit im Zusammenhang stehenden, der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegenden Verbrechens zu hindern, das sich aus den gleichen Umständen ergibt.“


Die hier zuständige Vorverfahrenskammer I besteht aus fünf unabhängigen Richterinnen: Neben einem französischen Richter als Präsidenten und einer beninischen Richterin als Vizepräsidentin besteht die Kammer aus einer rumänischen, einer italienischen und einer slowenischen Richterin.


Was wird vorgeworfen?


Der IStGH entschied, dass ein begründeter Verdacht besteht, dass Netanjahu und Gallant folgende Verbrechen begangen haben:


  • Die folgenden Kriegsverbrechen:


    • Vorsätzliches Aushungern von Zivilpersonen als Methode der Kriegführung: Die Vorverfahrenskammer setzte sich insbesondere mit diesem Vorwurf auseinander.


      Der IStGH entschied, es bestehe ein begründeter Verdacht , dass Netanjahu und Gallant der Zivilbevölkerung vorsätzlich und wissentlich überlebenswichtige Güter vorenthalten hätten, darunter Nahrungsmittel, Wasser, Medikamente und medizinische Hilfsgüter sowie Treibstoff und Strom. Es habe kein eindeutiger militärischer Bedarf oder eine andere Rechtfertigung für die Beschränkungen des Zugangs für humanitäre Hilfsmaßnahmen festgestellt werden können. Entscheidungen, die humanitäre Hilfe für den Gazastreifen zuzulassen oder aufzustocken, seien häufig an Bedingungen geknüpft gewesen. Trotz der Warnungen und Appelle, die unter anderem vom UN-Sicherheitsrat, vom UN-Generalsekretär, von Staaten sowie von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen bezüglich der humanitären Lage in Gaza ausgesprochen wurden, sei nur ein Minimum an humanitärer Hilfe genehmigt worden.


    • Vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung: Es bestehe der begründete Verdacht, dass Netanjahu und Gallant als Vorgesetzte für zwei Angriffe auf die Zivilbevölkerung verantwortlich seien. Sie hätten dies, obwohl dies für sie möglich gewesen sei, nicht verhindert und auch nicht den zuständigen Behörden vorgelegt.


  • Die folgenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit:


    • Vorsätzliche Tötung: Es bestehe begründeter Verdacht, dass der Mangel an Nahrungsmitteln, Wasser, Elektrizität und Treibstoff sowie an bestimmten medizinischen Hilfsgütern Lebensbedingungen geschaffen habe, die darauf ausgerichtet waren, einen Teil der Zivilbevölkerung in Gaza zu vernichten, was zum Tod von Zivilisten, einschließlich Kindern, aufgrund von Unterernährung und Austrocknung führte.


    • Andere unmenschliche Handlungen ähnlicher Art: Es bestehe der begründete Verdacht, dass Netanjahu und Gallant absichtlich den Zugang zu medizinischen Hilfsgütern und Medikamenten, insbesondere zu Narkosemitteln und Narkosegeräten, in den Gazastreifen beschränkt und verhindert hätten. Daher seien sie dafür verantwortlich, dass behandlungsbedürftigen Personen durch unmenschliche Handlungen großes Leid zugefügt wurde. Die Ärzte seien gezwungen gewesen, Verwundete zu operieren und Amputationen, auch an Kindern, ohne Betäubungsmittel vorzunehmen, und/oder sie waren gezwungen, unangemessene und unsichere Mittel zur Sedierung der Patienten zu verwenden, wodurch diesen extreme Schmerzen und Leiden zugefügt worden seien.


    • Verfolgung: Es bestehe der begründete Verdacht, dass dass das oben genannte Verhalten einen erheblichen Teil der Zivilbevölkerung in Gaza ihrer Grundrechte, einschließlich des Rechts auf Leben und Gesundheit, beraubte und dass die Bevölkerung aus politischen und/oder nationalen Gründen gezielt verfolgt worden sei.


Netanjahu und Gallant wurden wegen dieser Vorwürfe nicht verurteilt. Die Vorverfahrenskammer hat aufgrund des Bestehens eines begründeten Verdachts der Begehung dieser Verbrechen die Haftbefehle gegen beide erlassen. Für die Verurteilung wäre in der Folge eine Hauptverfahrenskammer bestehend aus drei Richterinnen zuständig. Für die Fortsetzung des Verfahren ist das Erscheinen der Personen vor dem Gerichtshof in Den Haag notwendig. Dies kann entweder freiwillig oder nach Festnahme und Überstellung erfolgen.


Konsequenzen des Haftbefehls


Die Vertragsstaaten müssen mit dem IStGH kooperieren und auf Ersuchen des IStGH die Personen, gegen die ein Haftbefehl erlassen wurde, verhaften. Österreich muss Netanjahu daher verhaften, wenn er nach Österreich einreist.


Eine Sprecherin des österreichischen Außenministers erklärte, trotz Kritik am Haftbefehl, dass dieser in Österreich umgesetzt werden würde. Der Premierminister von Ungarn, das auch Vertragsstaat des Römischen Statuts ist, hat hingegen erklärt, dies nicht tun zu wollen.


Verwechslungsgefahr: Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof


Nicht zu verwechseln sind diese Verfahren gegen Netanjahu und Gallant mit Verfahren gegen den Staat Israel selbst. Die Republik Südafrika reichte Ende Dezember 2023 gegen den Staat Israel eine Klage beim Internationalen Gerichtshof (IGH) ein, in der dem Staat Israel vorgeworfen wird, Völkermord begangen zu haben. Der IGH ist „das Hauptorgan der Rechtsprechung der Vereinten Nationen“. Er entscheidet über zwischenstaatliche Streitigkeiten.


Kurz gesagt:


  • Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH oder ICC) ist zuständig für die Verurteilung von Personen, die Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen oder das Verbrechen der Aggression begangen haben.


  • Die Vorverfahrenskammer des IStGH entschied, dass ein begründeter Verdacht besteht, dass Netanjahu und Gallant Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben.


  • Österreich muss Netanjahu verhaften, wenn er nach Österreich einreist.

Comments


bottom of page