Die ungarische Ratspräsidentschaft: "Make Europe Great Again"?
- Benjamin Weber

- 2. Juli 2024
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 3. Juli 2024
Ungarn übernahm gestern, am 1. Juli 2024, für sechs Monate den Vorsitz im Rat der Europäischen Union. Als Motto wählte das Land "Make Europe Great Again". Die ungarische Ratspräsidentschaft wurde schon lange im Vorhinein kritisch gesehen. Doch welche Kompetenzen hat die Vorsitzende?
Der Rat der Europäischen Union ("Rat"), auch EU-Ministerrat genannt, ist eines der Organe der EU.
Welche Organe hat die EU? [aufklappbar durch Klick auf den Pfeil]
Die Organe der EU sind in Artikel 13 des Vertrages über die Europäische Union ("EUV") aufgezählt:
das Europäische Parlament,
der Europäische Rat,
der Rat,
die Europäische Kommission,
der Gerichtshof der Europäischen Union,
die Europäische Zentralbank, und
der Rechnungshof.
Aufgabe der Organe ist es, den Werten der EU (zum Beispiel der Gleichheit) Geltung zu verschaffen, ihre Ziele zu verfolgen, ihren Interessen, denen ihrer Bürgerinnen und denen der Mitgliedstaaten zu dienen sowie die Kohärenz, Effizienz und Kontinuität ihrer Politik und ihrer Maßnahmen sicherzustellen. Im Wesentlichen sollen sie die EU-Rechtsordnung anwenden, durchsetzen und weiterentwickeln.
Der Rat verfügt über wichtige Aufgaben und Kompetenzen:
Er nimmt die Gesetzgebungsbefugnisse der Europäischen Union gemeinsam mit dem Europäischen Parlament oder allein wahr.
Für die Verhängung von Sanktionen ist ein einstimmiger Beschluss des Rates erforderlich. Eine Zustimmung des Parlaments wird nicht benötigt.
Der Rat genehmigt zusammen mit dem Parlament den Haushaltsplan.
Er schließt die internationalen Abkommen der EU ab.
Der Rat tagt – je nach behandeltem Sachgebiet – in verschiedenen Zusammensetzungen. Diese sind in der Geschäftsordnung festgelegt (z.B. Justiz und Inneres oder Umwelt). Jeder Mitgliedstaat entscheidet selbst darüber, auf welche Weise er sich vertreten lässt. Die Mitgliedstaaten werden daher normalerweise jeweils von den zuständigen Ministerinnen im Rat vertreten. Im Sachgebiet Umwelt wird Österreich zum Beispiel von der Bundesministerin für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie vertreten. Die Frage, ob die Bundesministerin einem Entwurf zustimmen darf, führte vor zwei Wochen zu einem Koalitionsstreit.
Der Rat der Europäischen Union darf nicht mit dem Europäischen Rat verwechselt werden. Dieser besteht aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten und hat keine direkte Rolle in der Gesetzgebung der EU.
Vorsitz im Rat
Den Vorsitz (auch EU-Ratspräsidentschaft genannt) hat immer ein Mitgliedstaat. Diesem kommt innerhalb der EU eine verantwortungsvolle Rolle zu. Er organisiert alle (Vorbereitungs-)Tagungen und Termine und leitet auch fast alle Ratssitzungen. Der vorsitzende Mitgliedsstaat wird daher auch als "Gastgeber" bezeichnet. Die EU-Ratspräsidentschaft soll auch Kompromisse zwischen den Mitgliedstaaten erarbeiten. Die EU-Ratspräsidentschaft hat auch die Aufgabe, Kompromisse zwischen den Mitgliedstaaten herbeizuführen. Dadurch hat der Ratsvorsitz einen großen Einfluss auf die EU. Außerdem vertritt der vorsitzende Mitgliedstaat den Rat gegenüber den anderen Institutionen der EU, zum Beispiel dem Parlament.
Um eine gewisse Kontinuität zu gewährleisten, wird der Vorsitz im Rat von zuvor festgelegten Gruppen von drei Mitgliedstaaten ("Trio") für einen Zeitraum von 18 Monaten wahrgenommen. Derzeit sind dies Spanien, Belgien und Ungarn. Gemeinsam haben sie ein Trioprogramm erstellt. Jedes Mitglied des Trios übernimmt den Vorsitz für einen Zeitraum von 6 Monaten und wird dabei von den anderen Mitgliedern des Trios unterstützt. Nachdem Spanien und Belgien die Ratspräsidentschaft im letzten Jahr übernommen haben, ist vom 1. Juli 2024 Ungarn an der Reihe. Das Programm, das sich Ungarn gesetzt hat, kann auf der Website der ungarischen Ratspräsidentschaft nachgelesen werden. Das Motto lautet "Make Europe Great Again" Das Programm nennt folgende Prioritäten:
Ein neuer Wettbewerbsfähigkeitsdeal
Stärkung der europäischen Verteidigungspolitik
Eine konsequente und leistungsorientierte Erweiterungspolitik
Eindämmung der illegalen Migration
Die Zukunft der Kohäsionspolitik gestalten
Eine Landwirte-orientierte Agrarpolitik
Bewältigung der demographischen Herausforderungen.
Kritik an Ungarn
Die ungarische Ratspräsidentschaft wird kritisch betrachtet, da die EU-Institutionen schon seit Jahren ein schwieriges Verhältnis zu Ungarn haben:
Gegen Ungarn läuft seit 2018 ein Verfahren nach Artikel 7 des Vertrages über die Europäische Union ("EUV"). Was ist das? [aufklappbar durch Klick auf den Pfeil]
Nach Artikel 2 EUV gründet sich die EU auf folgenden Werten:
Achtung der Menschenwürde,
Freiheit,
Demokratie,
Gleichheit,
Rechtsstaatlichkeit, und
die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.
Diese Werte werden durch den sogenannten Rechtsstaatsmechanismus geschützt. Nach Artikel 7 EUV kann der Rat der EU feststellen, dass
die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht oder
dass eine schwerwiegende Verletzung der Werte bereits vorliegt.
Diese Feststellung kann nur einstimmig durch alle Mitgliedstaaten getroffen werden. Eine solche Entscheidung ist daher sehr unwahrscheinlich. Nachdem diese Feststellung getroffen wurde, kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit bestimmte Mitgliedsrechte aussetzen: Sogar das Stimmrecht kann entzogen werden.
Gegen Ungarn wurde 2018 ein solches Artikel 7-Verfahren auf Vorschlag des Europäischen Parlaments eröffnet. Das Parlament warf Ungarn vor, diese Werte zu verletzen, insbesondere soll es Probleme mit Einwanderungs- und Asylpolitik, Justizreformen, akademischer Freiheit, Religionsfreiheit, Finanzierung von Nichtregierungsorganisationen und Minderheitenrechten geben.
Im Dezember 2022 hat der Rat ca. EUR 30 Milliarden, die an Ungarn ausgezahlt werden sollten, eingefroren – wegen Vorwürfen von Korruption und unrechtsmäßiger Verwendung von EU-Geldern. Diese Konsequenz ist möglich, weil seit 2020 ein neuer Rechtsstaatsmechanismus existiert, der eine Konditionalitätsregelung eingeführt hat. Er ermöglicht die Aussetzung von Zahlungen an Mitgliedstaaten, die gegen den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit verstoßen.
Aufgrund von Fortschritten wurden im Dezember 2023, EUR 10,2 Milliarden freigegeben. Orban hat daraufhin kein Veto mehr gegen die Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine eingelegt.
Das Parlament kritisierte diese Entscheidung und hat sie sogar beim Europäischen Gerichtshof angefochten.
Gegen Ungarn laufen mehrere Vertragsverletzungsverfahren. [aufklappbar durch Klick auf den Pfeil]
Sind die Kommission oder andere Mitgliedsstaaten der Meinung, dass ein anderer Mitgliedstaat das Unionsrecht nicht beachtet, können sie ein Vertragsverletzungsverfahren gegen diesen einleiten und sogar den Gerichtshof anrufen.
Gegen Ungarn laufen mehrere solcher Verfahren. Zum Beispiel:
In Ungarn gilt seit 2021 ein LGBTQI-feindliches Gesetz. Es verbietet den Zugang zu Informationen über andere sexuelle Orientierungen, beispielsweise durch Programme an Schulen oder durch Aufklärungsbücher, verboten. Deswegen leitete die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren ein.
Ungarn hat dieses Jahr ein "Souveränitätsgesetz" in Kraft gesetzt. Laut einer Kommissionsprecherin birgt "[d]ie Schaffung einer neuen Behörde mit weitreichenden Befugnissen und einem strengen Überwachungs- und Sanktionsregime [...] die Gefahr, der Demokratie in Ungarn ernsthaften Schaden zuzufügen." Auch deswegen leitete die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren ein.
Allerdings sind auch gegen Österreich viele Verfahren anhängig.
Ungarn wurde wegen eines anderen Vertragsverletzungsverfahrens zu einer Geldstrafe von EUR 200 Millionen sowie EUR 1 Millionen täglich verurteilt. [aufklappbar durch Klick auf den Pfeil]
Weil Ungarn die europäischen Asylregelungen missachtete, wurde das Land 2020 in einem Vertragsverletzungsverfahren durch den Gerichtshof der EU verurteilt. Ungarn machte
Die Kommission leitete 2022 erneut ein Vertragsverletzungsverfahren ein, weil Ungarn das Urteil nicht umgesetzt habe. Der Gerichtshof gab der Kommission Recht und verurteilte Ungarn zu einer Zahlung von EUR 200 Millionen sowie EUR 1 Millionen täglich bis zur Umsetzung des Urteils.
Der Gerichtshof kritisierte Ungarn besonders deutlich:
"Ungarn entzieht sich dadurch, dass es die Maßnahmen, die sich aus dem Urteil Kommission/Ungarn von 2020 ergeben, nicht ergreift, systematisch und bewusst der Anwendung der gemeinsamen Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz sowie den Vorschriften über die Rückführung illegal aufhältiger Personen im Rahmen der gemeinsamen Einwanderungspolitik, was einen außergewöhnlich schweren Verstoß gegen das Unionsrecht darstellt."
Ungarn verzögerte Entscheidungen auf EU-Ebene mehrmals mit Vetos. [aufklappbar durch Klick auf den Pfeil]
Für die Verhängung von Sanktionen und für andere wichtige Entscheidungen ist in vielen Fällen ein einstimmiger Beschluss des Rates erforderlich. Ungarn hat seine Zustimmung oft nicht oder nur verzögert gegeben. Zum Beispiel:
Ungarn verzögerte die Verhängung von Sanktionen gegen Russland mit einem Veto.
Ungarn verzögerte die Auszahlung von EU-Hilfen an die Ukraine mit seinem Veto. Letzte Woche beschlossen die anderen EU-Staaten, Gelder trotz Vetos von Ungarn auszuzahlen: Sie argumentierten, dass eine Zustimmung von Ungarn gar nicht notwendig sei, weil sich Ungarn bei der ersten Entscheidung enthielt.
Auch symbolische Akte werden von Ungarn mit einem Veto verhindert. Ungarn verhinderte mehrmals China-kritische EU-Resolutionen zum Beispiel betreffend Menschenrechtsverletzungen in China.
Das Europäische Parlament hatte unter anderem aus diesen Gründen Bedenken gegen die Übernahme der Ratspräsidentschaft durch Ungarn. Offensichtlich konnte keine Mehrheit oder andere Lösung gefunden werden, um dies zu verhindern. Die nächsten sechs Monate werden zeigen, in welche Richtung sich die EU unter der ungarischen Ratspräsidentschaft und dem neu zusammengesetzten Europäischen Parlament entwickeln wird.
Kurz gesagt:
Der Rat der Europäischen Union, der auch EU-Ministerrat genannt wird, ist eines der Organe der EU. Er hat wichtige Aufgaben und Kompetenzen, unter anderem in der Gesetzgebung.
Dem Mitgliedstaat, der den Vorsitz innehat (der also die Ratspräsidentschaft innehat), kommt innerhalb der EU eine verantwortungsvolle Rolle zu. Er organisiert alle (Vorbereitungs-)Tagungen und Termine und leitet auch fast alle Ratssitzungen.
Die Feststellung, dass eine schwerwiegende Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte vorliegt oder eine solche Gefahr besteht kann nur einstimmig durch alle Mitgliedstaaten getroffen werden. Nachdem diese Feststellung getroffen wurde, kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit bestimmte Mitgliedsrechte aussetzen: Sogar das Stimmrecht kann entzogen werden.






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