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AutorenbildBenjamin Weber

Darf sie das? Regierungsstreit zwischen Gewessler und ÖVP eskaliert

Die Bundesministerin Leonore Gewessler stimmte im Rat der EU, der aus Ministerinnen aller Mitgliedstaaten besteht, für die sogenannte Renaturierungsverordnung. Diese Entscheidung löste hitzige Diskussionen aus und war damit nicht zum ersten Mal Anlass für einen Koalitionsstreit (siehe zum Beispiel hier). Die ÖVP reagierte in diesem Fall jedoch besonders heftig und brachte sogar eine Strafanzeige gegen die Ministerin ein. Aber worum geht es hier genau?


Mit der Verordnung über die Wiederherstellung der Natur und zur Änderung der Verordnung (EU) 2022/869 ("Renaturierungsverordnung") soll zur langfristigen und nachhaltigen Erholung bzw. Wiederherstellung von Ökosystemen beigetragen werden. Sie soll auch der Verwirklichung der ambitionierten Klimaschutzziele der EU dienen. Dazu verpflichtet die Verordnung die Mitgliedstaaten zu weitreichenden Maßnahmen. Mitgliedstaaten müssen in Zukunft zum Beispiel nationale Wiederherstellungspläne erstellen und der Europäischen Kommission darüber berichten.



Die Renaturierungsverordnung wurde im Juni 2022 von der Europäischen Kommission vorgeschlagen. Das Europäische Parlament und der Rat der EU einigten sich im Rahmen des sogenannten Trilogs im November 2023 über die Abänderung des Textes. Das Europäische Parlament beschloss sodann im Februar 2024 die Verordnung mit den vereinbarten Änderungen. Daher fehlte nur mehr die (formelle) Beschlussfassung des Rates, eigentlich eine Formalität, da der Rat dem Text bereits bei der Einigung mit dem Parlament zugestimmt hat.


Im März 2024 änderte Ungarn allerdings plötzlich seine Position und weigerte sich fortan, der Renaturierungsverordnung im Rat zuzustimmen. Daher fehlte es in der Folge an der sogenannten qualifizierten Mehrheit: Durch die zustimmenden Mitgliedstaaten müssen nämlich 65 % der EU-Bevölkerung vertreten sein. Deshalb verschob der belgische Ratsvorsitz die geplante Abstimmung schließlich auf den 17. Juni 2024.


Österreich signalisierte bis vor Kurzem, dass es sich bei dieser Abstimmung enthalten würde, obwohl die österreichische Stimme die benötigte Mehrheit herbeigeführt hätte. Erst nach dem ungarischen Kurswechsel wurde in Österreich sodann über die rechtlichen Möglichkeiten einer Zustimmung diskutiert. Auf einer Pressekonferenz am Sonntag erklärte Bundesministerin Gewessler, zustimmen zu wollen. Bundeskanzler Karl Nehammer sendete vor der Abstimmung ein Schreiben an den belgischen Kanzler, der die Ratspräsidentschaft innehat und erklärte, dass Bundesministerin Gewessler nicht rechtmäßig zustimmen könne. Bundesministerin Gewessler sendete allerdings ebenfalls ein solches Schreiben und erklärte das Gegenteil. Der belgische Kanzler wollte die Abstimmung laut Medienberichten daraufhin verschieben. Der belgische Umweltminister ließ sie jedoch abhalten.


Schließlich haben alle bis auf 7 EU-Staaten für die Verordnung gestimmt, auch Österreich. Dagegen waren lediglich Ungarn, Schweden, Polen, Italien, Niederlande und Finnland. Belgien hat sich enthalten. Die ÖVP zeigte Bundesministerin Gewessler daraufhin aufgrund der Zustimmung wegen Amtsmissbrauches an. Aber warum?


Darf sie das?


Für die Frage, ob die Bundesministerin der Renaturierungsverordnung zustimmen durfte, sind zwei Aspekte relevant:


  • Welche Wirkung hat eine in diesem Fall abgegebene „einheitliche Stellungnahme der Länder“?


  • Hätte Einvernehmen mit anderen Ministern gesucht werden müssen?


Über beide Fragen haben sowohl die Bundesministerin als auch die ÖVP jeweils (mehrere) Rechtsgutachten in Auftrag gegeben.


1. Einheitliche Stellungnahme der Länder?


Österreich ist ein Bundesstaat. Die Republik besteht aus einem Bund und neun Ländern. In den meisten Angelegenheiten hat der Bund die Gesetzgebungskompetenz. In einigen Angelegenheiten kommt dieses Recht den Ländern zu, zum Beispiel in den Bereichen des Bauwesens, bei der Raumplanung oder auch im Naturschutz.


In den EU-Organen wird Österreich normalerweise durch die Bundesorgane vertreten. Um die Verteilung der Kompetenzen zwischen dem Bund und den Ländern zu sichern, wurde im Bundesverfassungsgesetz (B-VG) nach dem EU-Beitritt der Artikel 23d B-VG eingefügt. Dessen zweiter Absatz bestimmt:


"Haben die Länder eine einheitliche Stellungnahme zu einem Vorhaben erstattet, das Angelegenheiten betrifft, in denen die Gesetzgebung Landessache ist, so darf der Bund bei Verhandlungen und Abstimmungen in der Europäischen Union nur aus zwingenden integrations- und außenpolitischen Gründen von dieser Stellungnahme abweichen. Der Bund hat den Ländern diese Gründe unverzüglich mitzuteilen."


Die Renaturierungsverordnung regelt teilweise Angelegenheiten, in denen die Gesetzgebung Landessache ist. Falls eine einheitliche Stellungnahme der Länder vorliegt, darf der Bund, also auch Bundesministerin Gewessler, daher nur aus zwingenden integrations- und außenpolitischen Gründen von dieser Stellungnahme abweichen.


Im konkreten Fall gaben die Länder im November 2022 eine solche Stellungnahme ab, in der die Verordnung abgelehnt bzw. kritisiert wird. Im Mai 2023 wurde eine aktualisierte Stellungnahme an die Bundesministerin übermittelt, die auf zwischenzeitliche Änderungen des Entwurfs der Verordnung eingegangen ist. Laut ÖVP gilt die Stellungnahme bis heute. Die Bundesministerin hätte demnach nicht von deren Ablehnung abweichen dürfen. Die Zustimmung sei ein Rechtsbruch. Die Bundesministerin Gewessler unterstützenden Meinungen bezweifeln die Verbindlichkeit und Wirkung dieser Stellungnahme allerdings: Da die Renaturierungsverordung seit Mai 2023 wieder abgeändert wurde, sei die Stellungnahme nicht mehr gültig. Zusätzlich haben die Bundesländer Wien und Kärnten vor Kurzem erklärt, dass sie nunmehr positiv gegenüber der Verordnung eingestellt seien. Daher liege überhaupt keine einheitliche Stellungnahme mehr vor.


2. Einvernehmen mit anderen Ministern


Die Bundesregierung, sowie die einzelnen Bundesministerinnen und die Bundespräsidentin sind die obersten Verwaltungsorgane. Soweit Aufgaben nicht der Bundesregierung übertragen sind, werden sie durch die Bundesministerinnen eigenverantwortlich geführt. Es existiert keine Richtlinienkompetenz wie in Deutschland. Dort darf die Bundeskanzlerin die Richtung vorgeben.


Die Aufgabenbereiche der Bundesministerinnen werden im Bundesgesetz über die Zahl, den Wirkungsbereich und die Einrichtung der Bundesministerien ("BMG") geregelt. Für den Fall, dass eine Angelegenheit in den Aufgabenbereich mehrere Bundesministerinnen fällt, regelt Paragraph 5 BMG wie vorzugehen ist. Paragraph 5 Absatz 1 Ziffer 1 und Ziffer 2 BMG bestimmen Folgendes:


1. Bei Besorgung eines Geschäftes, das Angelegenheiten mehrerer in den Wirkungsbereich verschiedener Bundesministerien fallender Sachgebiete zum Gegenstand hat, haben die in Betracht kommenden Bundesministerien nach den Grundsätzen des Abs. 2 gemeinsam vorzugehen.


2. Bei Besorgung eines Geschäftes, das Angelegenheiten eines Sachgebietes zum Gegenstand hat, das in den Wirkungsbereich eines Bundesministeriums (zuständiges Bundesministerium) fällt, jedoch Sachgebiete berührt, die in den Wirkungsbereich eines oder mehrerer anderer Bundesministerien (beteiligte Bundesministerien) fallen, hat das zuständige Bundesministerium nach den Grundsätzen des Abs. 3 im Zusammenwirken mit dem oder den beteiligten Bundesministerien vorzugehen.


Die ÖVP bringt vor, dass die Renaturierungsverordnung auch Angelegenheiten des Bundesministeriums für Land- und Forstwirtschaft betrifft. Daher hätte laut ÖVP zumindest ein Einvernehmen mit Bundeminister Anton Totschnig gefunden werden müssen. Die andere Meinung ist, dass für die Stimmabgabe auf EU-Ebene andere Regelungen gelten würden und dass § 5 gar nicht gelte.


Auswirkungen auf EU-Ebene


Falls die Stimmabgabe durch die Bundesministerin nicht gültig gewesen wäre, würde dies auch auf EU-Ebene möglicherweise Konsequenzen nach sich ziehen. Fraglich wäre dann, ob die Renaturierungsverordnung gültig zustandegekommen ist. Bundeskanzler Nehammer hat bereits eine Nichtigkeitsklage angekündigt. Über deren Gültigkeit wird der EuGH zu entscheiden haben.


Fazit


Die Rechtslage ist umstritten, daher werden wohl Gerichte über die Rechtmäßigkeit der Zustimmungserklärung von Bundesministerin Gewessler entscheiden müssen.


Kurz gesagt:


  • Die Renaturierungsverordnung soll zur langfristigen und nachhaltigen Erholung biodiverser und widerstandsfähiger Ökosysteme bzw. deren Wiederherstellung beitragen.


  • In den EU-Organen wird Österreich normalerweise durch die Bundesorgane vertreten. Die Mitwirkung der Länder wird durch Bestimmungen in der Bundesverfassung geregelt.


  • Die Bundesregierung, sowie die einzelnen Bundesministerinnen und die Bundespräsidentin sind die obersten Verwaltungsorgane. Soweit Aufgaben nicht der Bundesregierung übertragen sind, werden sie durch die Bundesministerinnen eigenverantwortlich geführt. Es existiert keine Richtlinienkompetenz wie in Deutschland.

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